Vorwort
Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom 7. Dezember 2021 sieht einen Prüfauftrag für eine generationengerechte Absicherung der Eigenanteile an den Pflegekosten in Pflegeeinrichtungen vor. Vor diesem Hintergrund hat der Verband der Privaten Krankenversicherung im September 2022 einen interdisziplinären Experten-Rat Pflegefinanzen initiiert, der Lösungsvorschläge erarbeiten soll, wie die Finanzierung der Eigenanteile an den pflegebedingten Kosten abgesichert werden kann. Dem Experten-Rat Pflegefinanzen gehören an: Prof. Dr. Christine Arentz (Technische Hochschule Köln), Prof. Dr. Thiess Büttner (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg), Constantin Papaspyratos (Bund der Versicherten, Hamburg), Prof. Dr. Christian Rolfs (Universität zu Köln) und Prof. Dr. Jürgen Wasem (Vorsitzender, Universität Duisburg-Essen).
Die Mitglieder des Experten-Rates legen hiermit ihr Gutachten vor.
Der Experten-Rat dankt Frau Dr. Susanna Kochskämper, die die Arbeit an dem Gutachten koordinierend unterstützt hat und immer für uns ansprechbar war. Wir danken zudem Herrn Holger Eich, dem für die Aktuariate des Verbandes der Privaten Krankenversicherung verantwortlichen Geschäftsführer, der mit dem Zugriff auf die Datenbank zu Pflegekosten in den stationären Pflegeeinrichtungen und seiner Expertise zum Kalkulationsmodell der Privaten Krankenversicherung die empirischen Analysen im Gutachten erst ermöglicht hat.
Köln, Nürnberg, Hamburg und Essen, den 17. April 2023
Christine Arentz
Thiess Büttner
Constantin Papaspyratos
Christian Rolfs
Jürgen Wasem
Die in diesem Gutachten verwendeten Personenbezeichnungen gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.
Executive Summary
1. | Die in den 1990er Jahren geschaffene Gesetzliche Pflegeversicherung deckt nur einen Teil der pflegebedingten Kosten in den Pflegeeinrichtungen ab. Diese Kosten sind weitaus stärker gestiegen als die Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung. In der Konsequenz sind die Eigenanteile, die Pflegebedürftige an den pflegebedingten Kosten tragen müssen, erheblich angestiegen und belaufen sich aktuell auf monatlich rund 1.200 Euro im Bundesdurchschnitt. Es ist davon auszugehen, dass die pflegebedingten Kosten (u. a. wegen der unterdurchschnittlichen Rationalisierbarkeit von Pflege sowie aufgrund des Fachkräftemangels und seinen Auswirkungen auf die Lohn- und Gehaltsentwicklung von Pflegekräften) weiter ansteigen werden und damit der Eigenanteil auch zukünftig dynamisch wachsen wird. |
2. | SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag vom 7. Dezember 2021 einen Prüfauftrag für eine weitergehende Absicherung der Eigenanteile vereinbart. Vor diesem Hintergrund hat der Verband der Privaten Krankenversicherung im September 2022 einen interdisziplinären Experten-Rat initiiert, der Lösungsvorschläge in Bezug auf die Absicherung der Finanzierung der Eigenanteile an den pflegebedingten Kosten erarbeiten soll. Dem Experten-Rat gehören an: Prof. Dr. Christine Arentz, Prof. Dr. Thiess Büttner, Constantin Papaspyratos, Prof. Dr. Christian Rolfs und Prof. Dr. Jürgen Wasem (Vorsitzender). Die Mitglieder des Experten-Rates legen hiermit ihr Gutachten vor. |
3. | Der Prüfauftrag im Koalitionsvertrag sieht vor, dass die ergänzende Absicherung generationengerecht ausgestaltet werden soll. Dies erscheint dem Experten-Rat nachvollziehbar, wird doch die absehbare demografische Entwicklung in den Systemen der sozialen Sicherung aufgrund des Umlageverfahrens zu einer weiteren Belastung der jüngeren Generationen zugunsten der älteren Jahrgänge führen. Vor diesem Hintergrund erachtet es der Experten-Rat für geboten, die Absicherung der Eigenanteile an den pflegebedingten Kosten nicht ebenfalls über das Umlageverfahren zu finanzieren. Vielmehr wird vom Experten-Rat ein Vorschlag entwickelt, der eine kapitalgedeckte Versicherung mit Auf- und Abbau von Alterungsrückstellungen zur Abdeckung der Differenz zwischen den pflegebedingten Kosten und den Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung vorsieht. Das Modell ist innovativ, berücksichtigt die unterschiedlichen Sicherungsbedarfe in den verschiedenen Altersgruppen und verbindet Kapitaldeckung mit sozialpolitischen Flankierungen. |
4. | Der Vorschlag des Experten-Rats fokussiert auf die Absicherung der Eigenanteile in der stationären Pflege. Die ergänzende Versicherung - der Experten-Rat bezeichnet sie als Pflege+ Versicherung” - baut auf den von der Gesetzlichen Pflegeversicherung seit 2022 gezahlten Zuschlägen zu den Leistungen (§ 43c SGB XI) auf und sichert die beim Pflegebedürftigen verbleibenden pflegebedingten Eigenanteile ab. Es verbleibt lediglich ein prozentualer Selbstbehalt von 10 %. Die Pflege+ Versicherung ist als Pflegekostenversicherung ausgestaltet. |
5. | Die Pflege+ Versicherung berücksichtigt von Anfang an die zu erwartenden Kostensteigerungen in der Pflege und bietet durch das Einkalkulieren dieser pflegespezifischen Inflation einen wirksamen Schutz vor der Entwertung der Versicherungsleistungen. |
6. | Es besteht zwar bereits ein breites Angebot an Pflegezusatzversicherungen. Die Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre zeigen allerdings, dass das Angebot zur Versicherung der von der Gesetzlichen Pflegeversicherung nicht gedeckten Pflegekosten nur sehr begrenzt genutzt wird. Hierfür sind verschiedene Gründe anzuführen. Die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Pflegebedürftigkeit, welche typischerweise erst im hohen Alter eintritt, wird von den Jungen vielfach unterschätzt. Zudem verlassen sich viele auf die Pflege durch Angehörige oder die Finanzierung im Rahmen des Sozialstaats. Eine sozialpolitisch wünschenswerte hinreichend breite Abdeckung des finanziellen Risikos der Eigenanteile kann daher nur erreicht werden, wenn sie obligatorisch ist. Der Experten-Rat empfiehlt daher, die ergänzende Absicherung der Eigenanteile als Pflichtversicherung für die gesamte Bevölkerung auszugestalten. Das Angebot einer lediglich freiwilligen Versicherung, wie sie im Prüfauftrag des Koalitionsvertrags angedacht ist, wäre auch deswegen problematisch, weil es zu adverser Selektion einlädt: Personen mit überdurchschnittlichem Risiko, pflegebedürftig zu werden, würden die Versicherung voraussichtlich überdurchschnittlich häufig abschließen. Da aber die Prämien für die vom Experten-Rat vorgeschlagene Pflege+ Versicherung so berechnet werden, dass sie den erwarteten Kosten in den jeweiligen Alterskohorten entsprechen, gilt für die jeweiligen Geburtsjahrgänge eine Äquivalenz zwischen Prämien und Leistungen. Der Experten-Rat hält deshalb den mit der Versicherungspflicht verbundenen Eingriff in die Vertragsfreiheit zur Erreichung der Ziele des Koalitionsvertrags für vertretbar. |
7. | Die Pflicht zur Versicherung für die Bevölkerung muss durch eine geeignete Regulierung der Anbieter begleitet sein. So ist ein Kontrahierungszwang für die Versicherungsunternehmen erforderlich, sie dürfen niemanden ablehnen. Es gibt dabei keine Gesundheitsprüfung. Um den Versicherten einen nachteilsfreien Wechsel zwischen Versicherern zu ermöglichen und damit Wettbewerb zwischen den Versicherungsunternehmen zu befördern, ist es weiterhin erforderlich, dass den Versicherten beim Wechsel zwischen den Versicherungsunternehmen die bis dahin aufgebaute Alterungsrückstellung vollständig mitgegeben wird. Die Prämienkalkulation der Versicherer erfolgt nach einheitlichen Grundsätzen. Zum Ausgleich unterschiedlicher Versichertenstrukturen findet ein Risikoausgleich zwischen den Versicherungsunternehmen statt. |
8. | Der Vorschlag des Experten-Rats für die Pflege+ Versicherung sieht sozialpolitische Flankierungen vor:
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9. | Dem Koalitionsvertrag folgend, sieht der Vorschlag des Experten-Rats vor, dass die Prämie während der Erwerbsphase paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen wird. Im Rentenalter wird die (halbierte) Prämie alleine von den Versicherten getragen. |
10 | Die Ausgestaltung im Kapitaldeckungsverfahren ist generationengerecht. Für die heute bereits älteren Geburtsjahrgänge wäre eine Vollabsicherung des pflegebedingten Eigenanteils indes mit sehr hohen Prämien verbunden. Zudem ist anzunehmen, dass die heute älteren Geburtsjahrgänge vielfach bereits finanziell für die Pflege im Alter vorgesorgt haben. Daher wird hier für die Einführungsphase der Pflege+ Versicherung ein dreistufiges Modell vorgeschlagen:
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11. | Der Experten-Rat hat für das vorgeschlagene Modell mit den ihm zur Verfügung stehenden Daten exemplarisch die resultierenden Prämien errechnet. Dabei hat der Experten-Rat vorsichtig kalkuliert. So wurde etwa angenommen, dass die Leistungen jedes Jahr nominal um 4 % steigen werden. Für die Modellierung der Einführungsphase wurde die Altersschwelle zwischen “jüngeren” und “älteren” Erwerbstätigen bei 45 Jahren gesetzt.
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12. | Für Versicherte, die im Einführungsjahr der Pflege+ Versicherung bereits älter als 20 Jahre sind, ergibt sich:
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13. | Sofern auch Personen in die Pflege+ Versicherung einbezogen werden, die im Einführungsjahr bereits das 67. Lebensjahr vollendet haben, beträgt die Monatsprämie die Hälfte des zuvor genannten Betrags, also 26 Euro. Die Prämie für die Pflege+ Versicherung bleibt in den Folgejahren bei Verwirklichung der konservativen Annahmen des Experten-Rats real konstant, erhöht sich also nur im Umfang der allgemeinen Inflationsrate. Der Leistungsanspruch beläuft sich bei dieser Personengruppe auf 40 % des Eigenanteils. |
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Entwicklung der Hilfe zur Pflege in stationären Einrichtungen
Abbildung 3: Prämienverlauf eines heute 20-Jährigen zu heutigen Preisen im Längsschnitt
Abbildung 4: Versicherungsumfang und Prämien der Pflege+ Versicherung im Einführungsjahr (2023)
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Entwicklung der Pflegekostendifferenz im Bundesdurchschnitt seit 2018
Tabelle 4: Variante 1 und 2 - Ergänzung der Leistung aus Sozialer und Privater Pflegeversicherung
Tabelle 5: Höhe der Monatsprämie in einer exemplarischen Pflegetagegeldversicherung
Tabelle 6: Übersicht über die verschiedenen Pflegezusatzversicherungen
Tabelle 7: Bestandsentwicklung Pflegezusatzversicherungsverträge
Tabelle 8: Bestandsgruppen Pflegezusatzversicherungsverträge
Tabelle 9: Bestand in den Leistungsbereichen der verschiedenen Zusatzversicherungen